Als ich begann, meine ersten Erkenntnisse von „durchschnittlich vertretenen Merkmalen“ oder aus statistischen Erhebungen mit meinen Freunden und Bekannten zu teilten, schlug mir sehr oft ein spontanes: „Ich bin aber ganz anders“ oder: „Ich kenne da einen, bei dem ist das nicht so“ entgegen. Sicher, jeder Mensch ist einzigartig in seiner Ausprägung – und wer möchte schon gerne Mittelmaß und menschlicher Durchschnitt sein? Mein zaghafter Versuch, den Betroffenen das Wesen des Mittelwertes zu erklären, also dass sich zum Beispiel Frauen durchschnittlich nicht so gut dreidimensional orientieren können, wurde mit dem unerbittlichen Argument der Individualität des Einzelnen abgeschmettert. So manches gemütliche Abendessen drohte zu kippen, wenn ich dieses Phänomen beschrieb. Was aber ist menschlicher Durchschnitt?

Viele Merkmale vereint: menschlicher Durchschnitt

Grundsätzlich konnten natürlich alle anwesenden Frauen am Tisch super mit Straßenkarten umgehen, sich in jeder fremden Stadt spontan orientieren und Entfernungen und Himmelsrichtungen korrekt einschätzen. Na prima, und am Schluss sitze ich dann immer wie ein begossener Pudel in der Chauvinistenecke, nach dem Motto: Das alles sind nur männliche Stammtischfantasien! Mein Vater konnte tatsächlich auch keine Karte lesen, obwohl er ein Mann war, aber da gibt es in unserem Land noch weitere 41 Millionen Männer, und die können sich nun mal durchschnittlich besser zurechtfinden als Frauen. Menschlicher Durchschnitt eben.

Der Durchschnitt bezeichnet ein Merkmal, um das sich möglichst
viele ähnliche Ergebnisse gruppieren. Je mehr und je näher um
den Mittelwert, desto genauer ist die Aussage

© truthseeker08 / Pixabay.com

Es geht hier also um Statistik, und ich muss gestehen, dieses Wort erfährt ungefähr die gleiche Wertschätzung wie eine leere Prepaidkarte. Nicht ganz zu Unrecht, da die alte Weisheit „Trau keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast“ leider ihre Berechtigung hat. Zu gerne werden heute, für welchen Zweck auch immer, Untersuchungen manipuliert, unwissenschaftlich durchgeführt oder durch Weglassen von Fakten geschönt. Besonders erfinderisch sind hier die Kollegen aus dem Bereich der Pharma- und Nahrungsmittelergänzungsindustrie sowie die Hersteller von homöopathischen Mittelchen.

Wie lange mussten wir kiloweise Vitamin C schlucken, bis nachgewiesen wurde, dass es leider im Normalfall gar nichts bringt? Schade, ich komme gerade bei diesem Thema so richtig in Schwung, aber es gibt ja glücklicherweise noch genug ernsthafte wissenschaftliche Autoren wie beispielsweise Ben Goldacre (Die Wissenschaftslüge, S. Fischer Verlag), die sich solchen Themen widmen und die ich hiermit wärmstens empfehle. Lassen Sie sich auch nicht von „Ergebnissen“ beeindrucken, die man im Reagenzglas oder an Fruchtfliegen erprobt hat. Auch Ratten und Mäuse sind eben nur Tiere und unsere menschlichen Strukturen und Stoffwechsel sind wesentlich komplexer und daher nur schwer vergleichbar.

Wissenschaftliche Untersuchungen sind umso eher richtig,
je mehr unabhängige Institutionen zum gleichen Ergebnis
kommen

Eine der beliebten pseudowissenschaftlichen Formulierungen heißt dann: „Im Laborversuch wurde die Wirkung des Stoffes A belegt.“ O.k., es kann durchaus sein, dass im Reagenzglas etwas funktioniert, aber ob der Stoff A überhaupt für den Menschen verstoffwechselbar ist oder ob der Körper ihn in der nötigen Konzentration aufnehmen und vertragen kann, solche Dinge bleiben oft unausgesprochen. Würde ja auch den werblichen Erfolg erheblich stören.

Was ist eigentlich das arithmetische Mittel?

Der Mensch ist ein wenig komplizierter, als dass solche Dinge einfach zu übertragen wären. Auch Untersuchungen mit einer kleinen Probandenzahl (unter 150 Personen) sind mit Vorsicht zu genießen. Erst wenn es mehrere gleichartige Forschungen mit übereinstimmenden Ergebnissen gibt, die dann in sogenannten Metastudien zusammengefasst werden, kann man von einem erhärteten Ergebnis sprechen. Es bedarf daher schon einiger Erfahrung, um aus den zur Verfügung stehenden Quellen das Richtige herauszulesen. Aber dafür haben Sie ja mich, und da, wo ich mir und der Rest der Wissenschaft nicht so ganz sicher sind, werde ich das schon sagen.

Wissenschaftliche Untersuchungen mit wenigen Probanden
sind unsicher im Ergebnis

Um dem geschätzten Leser oder dem eventuellen Kritiker das Leben zu erleichtern beziehungsweise zu erschweren, hier ein kleiner Exkurs über den oft gebrauchten Ausdruck des Durchschnitts oder des arithmetischen Mittels, der ganz ohne Mathematikkenntnisse zu verstehen ist: „Der Mittelwert beschreibt den statistischen Durchschnittswert und zählt zu den Lageparametern in der Statistik. Für den Mittelwert addiert man alle Werte eines Datenblockes und teilt die Summe durch die Anzahl aller Werte.“ (Zitiert nach www.statista.com) So lautet die trockene wissenschaftliche Definition, die ich nachfolgend etwas bildhafter erklären möchte.

Beispiel: Zwei Männer legen eine Strecke von 10 Kilometern zurück. Der eine in 60 Minuten, der andere in 30 Minuten. Durchschnittlich haben die beiden Männer die Strecke also in 90 Minuten : 2 = 45 Minuten zurückgelegt. Diese Aussage wird den beiden Herren nun gar nicht gerecht, denn der eine braucht doppelt so lange wie der andere beziehungsweise umgekehrt, der eine braucht nur die Hälfte der Zeit des Langsamen. Wir haben hier nur zwei Läufer, nur zwei Werte, die wir vergleichen, und das ist eben irreführend und erzeugt zwar eine richtige Aussage des Mittelwertes, beschreibt aber die Gruppe nur unzureichend.

Ergebnisse, die im Reagenzglas oder bei Tieren funktionieren,
müssen sich noch lange nicht auf den Menschen übertragen
lassen.

Je mehr Werte man also hat und je näher sie um den errechneten Mittelwert liegen, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Leser sagen wird „Ja, so ist das bei mir auch“, und desto wahrscheinlicher ergibt die Untersuchung eine richtige Aussage. Je weiter die Einzeldaten auseinanderliegen, desto eher würde die Antwort bei einem unserer oben genannten Wanderer lauten: „Ich bin aber viel schneller/langsamer.“

Kommentar verfassen